Tim, deine Lebensgeschichte vom kriminellen Gang-Mitglied zu einem der 50 besten Sterneköche der Welt wurde bereits ausgiebig erzählt. Gibt es in der Rückschau eine Lebensphase, die du für diesen Weg als besonders prägend wahrgenommen hast?
Das Prägendste war bestimmt das, was ich meistens unterbewusst wahrgenommen habe, und zwar der Umgang mit meinen Großeltern, den Eltern meines Vaters. Mein Großvater hat mir mehr im Gespräch, meine Großmutter stärker in den Handlungen die preußischen Tugenden nähergebracht.
Heißt?
Beide waren unglaublich fleißig. Authentisch. Ehrlich. Gerade. Mein Opa hat Kekse verkauft für Bahlsen, meine Oma war erst Schneiderin, dann Verkäuferin bei C&A. Das heißt, sie gehörten zum absoluten Arbeiter-Milieu, hatten bürgerliche Ansichten und waren durch und durch unspektakulär. Aber gerade in diesem Unspektakulären haben sie eine große Konstanz gelebt. Das ist etwas, was mir erst später, so mit Mitte 20, wirklich bewusst geworden ist: Wie wichtig es ist, diese Grundlagen, eine echte Verwurzelung zu haben. Wenn ich etwa mit meinem Großvater Fußball geschaut habe, hat er mir immer wieder eingebläut, dass es fast noch wichtiger ist, ein guter Verlierer zu sein als ein guter Gewinner. In meiner Jugend konnte mir niemand etwas Literarisches oder Geisteswissenschaftliches näherbringen. Das geht mir durchaus bis heute so, ich bin da relativ immun. (lacht) Von ihnen habe ich einen ganz klaren Kompass mitbekommen, der mir eben auch dadurch, dass ich viel Scheiße gebaut habe und kriminell war, gezeigt hat, dass dieser Weg falsch ist. Bis heute lebe ich Werte, die auf dem fußen, was meine Großeltern mir mitgegeben haben. Es sind die Säulen dessen, was ich mache.
Was bedeutet das konkret?
Wenn ich etwa immer wieder gefragt werde, wie ich diese oder jene bemerkenswerte Kreation entwickelt habe, antworte ich: Die Basis dafür ist, morgens diszipliniert aufzustehen und die Vorarbeit zu machen. Erst wenn dieses Grundgerüst aus Sauberkeit, Ordnung und Struktur steht, kann man anfangen, in den Wolken zu spielen, zu träumen und zu kreieren.
Man sieht es immer wieder: Du hasst dreckige Küchen. Und „hassen“ ist dabei noch untertrieben.
Ja, absolut. Ich kann so einfach nicht arbeiten. Da kommt wieder diese preußische Prägung durch. Es ist das zentrale Element, das ich immer versuche weiterzugeben. Dazu gehört auch, das Spektakuläre, das einem vielleicht gelingt, nicht überzubewerten, sondern immer demütig zu bleiben. Sicher, auch ich habe Emotionen, kann mich freuen oder ärgern – aber ich habe gelernt, diese Emotionen zu kontrollieren. Das heißt, wenn ich Emotionen zeige, ist das eine bewusste Entscheidung. Und ich finde überhaupt nichts Fragwürdiges daran, kontrolliert zu funktionieren.
Ist dieses ständige Kontrolliertsein nicht fürchterlich anstrengend?
Nee. Für mich ist es vielmehr die Grundlage, um überhaupt zu einem besonderen Ergebnis zu gelangen. Selbst als unser Restaurant in die Liste der 50 besten der Welt aufgenommen wurde, alle um mich herum wild gefeiert haben und sich kurz für die absolut Geilsten hielten, war ich derjenige, der ihnen sagte: „Kommt mal runter, in zwei Stunden kommen die nächsten 50 Gäste, und denen ist das alles scheißegal – die wollen von euch die volle Leistung und Konzentration.“
Bist du nie selber genervt von deiner Getriebenheit?
Ich bin nicht mal genervt von meinem Perfektionismus, dabei kann der schon anstrengend sein. (lacht) Zum Glück habe ich meine Frau, sie ist Österreicherin und sagt mir dann einfach: „Ach Tim, nun lass mal gut sein.“
Das lässt du dir dann aber auch sagen?
Das hängt sehr davon ab, worum es geht. (lacht) Sie müssen wissen: Ich habe immer einen Plan, wirklich für jeden Scheißdreck und selbst im Urlaub. Ich mache nichts ohne diese Pläne, meinen Computer und meinen Terminkalender. Ich brauche das auch sehr, aus der bis heute anhaltenden Angst heraus, doch noch einmal in Disziplinlosigkeit zu versacken. Das ist eben die Prägung meiner Jugend in Kreuzberg: die Erfahrung und Erkenntnis, dass gerade diese Disziplinlosigkeit dafür sorgt, dass man nichts wird und erreicht im Leben.
Gibt es demgegenüber irgendwelche Bereiche, in denen du auch mal mit Vorsatz über die Stränge schlägst?
Das sieht man mir doch an: beim Essen. (lacht) Hinzu kommt, dass mir regelmäßiger Sport unheimlich schwerfällt.
Die höchste Disziplin beim Kochen, Disziplinlosigkeit beim Essen: Wie passt das zusammen?
Das kommt daher, dass Essen für mich neben dem Erlebnis von Geschmack und dem banalen Stillen von Hunger viele weitere Funktionen erfüllt. Seit meiner Kindheit ist Essen für mich ein Ersatz für Zuneigung, die mir damals eben gefehlt hat. Zudem bin ich schwer zuckersüchtig und liebe alles, was knusprig und fettig ist. Ich kann an Speiseeis nicht gefahrlos vorbeigehen, noch weniger an Pralinen. All das verschafft mir ein Gefühl von Wärme und Geborgenheit, auch Zufriedenheit.
Gibt es demgegenüber auch Nahrungsmittel, die bei dir eher Ekel auslösen?
Ja: Nieren. Das war die Strafarbeit in meiner Ausbildung: 40 Kilo ungewässerte Schweinenieren putzen. Alles stinkt nur noch nach Pisse, es ist einfach widerlich. Ich bekomme bis heute einen Brechreiz, wenn ich nur dran denke.
Du erwähntest eben deinen Perfektionismus: Schaut man dir beim Kochen zu, bekommt man den Eindruck, dass du diesen nicht nur brauchst, sondern uneingeschränkt geil findest.
Das ist auch so. Allerdings: Es geht dabei um meine Perfektion und nicht um allgemeingültige. Sonst hätte ich ja auch drei Sterne und 20 Gault-Millau-Punkte. Aber wenn ich mit einer Sache zufrieden bin, an der ich wochenlang akribisch gearbeitet habe, wenn ein Gericht, das ich rausgebe, auf das Gramm genau meinem Plan und die vielschichtige Aromenwelt exakt meinen Vorstellungen entspricht, dann finde ich darin die Energie, die mich immer weiter antreibt. Eine Energie, die gleichwohl mit sich bringt, dieses Gericht beim nächsten Mal noch besser machen zu wollen, noch einfacher anzurichten, noch klarer zu gestalten im Geschmack.
Angesichts des Ansehens, das du als Koch genießt, ist das in der Küche absolut nachvollziehbar. Aber im Privatleben?
Da auch. Ein Beispiel: Wenn ich einen Flug habe, beginne ich mindestens am Tag vorher, mich intensiv damit zu beschäftigen. Ich checke per Google Maps, ob es auf dem Weg zum Flughafen Baustellen oder sonstige Behinderungen gibt, die die Fahrtzeit verlängern könnten. Ich rekapituliere, wie lang die Fußwege im Flughafengebäude sind. Nach Berechnung all dieser Eventualitäten plane ich meine Abfahrt so, dass ich in jedem Fall mindestens zwei Stunden vor Abflug am Flughafen bin – und das, obwohl ich prinzipiell immer in der ersten Reihe in einem Flieger sitze. Oder wenn wir im Urlaub planen, einen Strandspaziergang zu einer bestimmten Eisdiele zu machen, mache ich keinen entspannten Spaziergang – ich marschiere, so sagt meine Frau, mit stierem Blick im Stechschritt durch den Sand und halte nicht eher an, bis wir dort angekommen sind. Es sei denn, sie nimmt mich am Arm und sagt: „Tim, die Eisdiele ist kein Ziel und auch keine Challenge. Sie ist eine Möglichkeit.“ So ist das Leben mit mir. Musst du dir mal vorstellen. (lacht)
Bist du denn wenigstens mit deinem Umfeld etwas gnädiger und großzügiger, was Perfektion angeht?
Mittlerweile ja, aber das musste ich mühsam lernen. Bis vor etwa zehn Jahren bin ich bei Geschäftsterminen nach fünf Minuten aufgestanden und gegangen, wenn sich meine Verabredung verspätete. Ganz egal, wie wichtig der Termin war, wie bedeutend der Geschäftspartner war oder wie schwerwiegend mögliche Folgen aussahen. Mittlerweile warte ich schon mal zehn, in Einzelfällen auch 15 Minuten, weil ich verstanden habe, dass es eben Menschen mit einer derart großen Verantwortung gibt, dass sie manchmal einfach nicht pünktlich abkömmlich sind.
Da kommt wieder der Preuße durch, stimmt’s?
Korrekt. Pünktlichkeit ist für mich die einfachste Form der Höflichkeit und des Respekts. Erstaunlicherweise ist durch mein Verhalten nie ein Geschäft geplatzt. Stattdessen wurde dann ein neuer Termin gemacht und darauf geachtet, dass man beim nächsten Mal pünktlich kommt. (lacht)
Ist dir bewusst, dass ein solcher Perfektionswille oft unsympathisch wirkt?
Nicht nur das, er macht sogar unbeliebt. Das weiß ich sehr genau. Mit dem Alter lerne ich aber immer besser, bestimmte Situationen anders zu regeln als früher. Trotzdem lasse ich mich weder vereinnahmen noch instrumentalisieren. Wenn etwa ein Fotograf vorschlägt, ich solle einen Teller hochhalten wie 1988 und verzückt die Augen verdrehen, dann gehe ich und lasse es sein mit dem Foto. Das hier ist mein Leben und ich lasse mich nicht zum Hampelmann machen. Da bin ich auch durch und durch Egozentriker – eine Eigenschaft, die aus meiner Sicht eh ein viel zu schlechtes Image hat. Ich beherrsche mein Leben, ich beherrsche, wie gut oder schlecht mein Umfeld funktioniert, ich entscheide, wem oder welchen Dingen ich meine oft kostbare Zeit schenke, worauf ich Bock habe und was mir den Buckel runterrutschen kann. Ich weiß, dass das erstens ein Luxus ist und zweitens eben nicht unbedingt beliebt macht, aber ich musste das auch lernen. Wenn es nach den Anfragen von außen ginge, hätte mein Tag mindestens 150 Stunden.
Bei allem, was du tust, geht es schon vor allem um die Anerkennung, die du als Kind und Jugendlicher so vermisst hast. Korrekt?
Nee, Anerkennung würde ich nicht sagen. Es geht vielmehr um Liebe. Anerkennung interessiert mich kaum, eine Auszeichnung kann mich einige Sekunden erfreuen…
Nur Sekunden?
Ja, ich kann mich generell nur sehr schwer freuen und auch unfassbar schlecht mit Lob umgehen. Nein, ich mache das alles vor allem für Liebe. Wobei ich mir auch selber aussuche, wessen Liebe ich annehme und zulasse. Gegen falsche oder geheuchelte Liebe grenze ich mich sehr stark ab. Mir geht es stets um bedingungslose Liebe, das habe ich schon damals mit meiner ersten Frau besprochen, mit der ich ja bis heute als Geschäftspartnerin zusammenarbeite.
Was meinst du mit „bedingungslos“?
Ich meine jedenfalls nicht, dass man nicht kritisch gegenüber dem anderen sein darf, sondern dass man den anderen so nimmt, wie er ist, und ihn auch genau so liebt – ohne den insgeheimen Wunsch, ihn verändern zu wollen. Das halte ich auch für eine meiner größten Stärken: Ich habe nie das Bedürfnis, jemanden verändern oder gar manipulieren zu wollen.
Wie ist das, wenn man das Phänomen dieser bedingungslosen Liebe erst sehr spät im Leben entdeckt? Wie fühlt sich das an?
Die Psychologinnen, bei denen ich war – es waren tatsächlich fast immer Frauen –, haben gesagt: Wenn du nicht geliebt wirst, hast du keine Wurzeln. Du hast kein Zuhause und findest auch nie zur Ruhe. Das hat mich mit Sicherheit sehr lange geprägt. Vermutlich stammt daher auch mein Drang, immer woanders zu sein, weg zu sein, Neues kennenzulernen, worunter meine erste Frau sehr gelitten hat. Die Liebe, die ich durch sie erfahren habe, hat mir viel Ruhe und Gelassenheit gegeben. Unsere Trennung vor neun Jahren war natürlich eine große Zäsur. Also habe ich mich hingesetzt und sehr genau aufgeschrieben, was ich eigentlich von mir und meinem Leben erwarte – und von der Liebe.
Was kam dabei raus?
Lustigerweise zunächst einmal, dass ich auf keinen Fall das möchte, was viele meiner engen Freunde als Weg gewählt haben. Sie müssen dazu wissen, dass die meisten von ihnen fünfzehn bis zwanzig Jahre älter sind als ich, und als die durch eine Trennung oder Scheidung gingen, haben sich sehr viele danach für eine deutlich jüngere Partnerin entschieden – und zwar rund 20, 30 Jahre jünger. Das hat mich überhaupt nicht interessiert. Ob bei Freunden oder noch mehr bei Partnerinnen: Ich suche immer nach Menschen, die mindestens auf Augenhöhe zu mir sind und gern noch deutlich darüber. So wähle ich auch Führungspersonal aus: Die Leute müssen irgendwas besser können als ich. Denn ich bin der Erste, der zugibt, dass er etwas nicht weiß oder checkt, und der bereit ist, etwas dazuzulernen. Was jedenfalls dabei herauskam, war, dass ich nach dieser Selbstreflexion ein klares Bild von meiner zukünftigen Partnerin hatte, und jenes fand ich dann in meiner jetzigen Frau. Das hat sie anfangs übrigens völlig überfordert: dass ich so felsenfest davon überzeugt war, dass wir zusammengehören und dass sie die Richtige ist. Das kam für sie wohl unerwartet, denn wir kannten uns ja schon einige Jahre, und bis dahin hatte ich das nie so artikuliert.
Was hat dich letztlich überzeugt?
Das kann ich nicht genau sagen, aber damals hat geholfen, dass ich im Rahmen einer Titelgeschichte für ein renommiertes Gastro-Magazin, die sie damals produziert hat, so grenzenlos positiv von meiner Ex-Frau Marie erzählt habe. Mir war das gar nicht aufgefallen, für mich war das selbstverständlich. Aber sie fand es offenbar sehr bemerkenswert, wie begeistert ich meiner Ex-Frau eine Bühne geboten habe. Das mache ich generell unheimlich gern für Menschen, die das verdient haben.
Jetzt wird es sehr privat: Erkennst du Unterschiede in der Liebe?
Höchstens Erweiterungen. Durch meine Frau habe ich eine fantastische Familie kennen und lieben lernen dürfen, und auch ich erfahre dort intensive familiäre Liebe. Ich habe fantastische Schwiegereltern, das sind unfassbar großartige Menschen, die sechs großartige Kinder aufgezogen haben. Nun sind sie die perfekten Großeltern für mittlerweile zehn Enkel – und eben auch perfekte Schwiegereltern. Das hat mir tatsächlich noch mal eine ganz neue Form von Liebe eröffnet: Im Kreise der 22 engsten Familienmitglieder Weihnachten zu feiern, sich dort einzufügen und mal keine Rolle zu spielen als Tim Raue, das ist einfach fantastisch. Zu wissen, dass sie sich nur für den Menschen Tim interessieren, der ihre Tochter geheiratet hat, gibt mir eine unglaubliche Ruhe.
Zur Person
Für Sterne- und Starkoch Tim Raue (geboren 1974 in West-Berlin) stellte Kochen die große Chance dar, aus komplizierten Verhältnissen zu einem komfortablen, bürgerlichen Leben zu gelangen. Anfang der 90er absolvierte Raue eine Kochausbildung, mit 23 Jahren wurde er erstmals Küchenchef, 2008 folgte der erste Michelin-Stern sowie die Auszeichnung „Koch des Jahres“ für sein Restaurant „Ma Tim Raue“. Sein „Restaurant Tim Raue“ in Kreuzberg gehört seit 2016 zu der weltweit bedeutsamen Rangliste „The World’s 50 Best Restaurants“.
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