Mr. Bragg, wohin geht der erste Blick nach dem Aufstehen: in die Presse, in die sozialen Medien – oder auf die Homepage ihres Lieblingsfußballvereins West Ham United?
Einen Kaffee und den „Guardian“, das ist es, was ich als erstes brauche. Ohne Koffein geht morgens gar nichts, dazu die Zeitung, um mich auf den aktuellen Stand zu bringen, und ein paar Scheiben Toast, dann kann der Tag losgehen.
Die sozialen Medien gehören also nicht zu ihrem Start in den Tag?
Doch, schon, meine Facebook-Seite fordert einiges an Aufmerksamkeit, und ich bin auch auf Twitter und Instagram, wobei ich dort eher Repostings von Facebook teile.
Haben Sie das Gefühl, sich manchmal zu lange mit diesen Dingen zu beschäftigen?
Manchmal ist es definitiv zu viel. Ich habe mich schon zu einigen Debatten hinreißen lassen, die nicht unbedingt hätten sein müssen. Das Problem bei politischen Diskussionen ist leider, dass es fast unmöglich ist, nicht irgendwann an den Punkt zu kommen, an dem die Leute sich gegenseitig anpöbeln, insbesondere auf Twitter. Mit den Jahren gelingt es mir aber zunehmend besser einzuschätzen, mit wem man sich zivilisiert auseinandersetzen kann und mit wem nicht.
In Ihrem Buch Die drei Dimensionen der Freiheit geht es in Sachen Online-Kontroversen unter anderem auch um das sogenannte „Virtue Signalling“ – was hat es damit auf sich?
Damit sind Mikro-Debatten um vermeintliche Tugend- und Moral-Ansprüche gemeint.
Woher kommt dieses Phänomen?
Die Leute verlieren zunehmend die Kontrolle über wirtschaftliche Faktoren. Im Kontext einiger Mainstream-Medien aber wird ihnen eine vorgebliche Einflussnahme über kulturelle Dinge suggeriert. Das war ja auch eine der Kernaussagen im Wahlkampf von Donald Trump: Ihr werdet euch endlich wieder als Gewinner fühlen. Trump kannte die demographischen Faktoren ganz genau. Das ist es, was die Leute umtreibt: eine Art Machtlosigkeit. Das Gefühl, nicht mehr gehört zu werden.
In unzähligen Beiträgen aus dem rechten Spektrum wird der Verlust von Meinungsfreiheit beklagt. Dass man bestimmte Dinge nicht mehr sagen dürfe, hat sich bei vielen Menschen als vermeintliches Syndrom unserer Gesellschaft manifestiert.
Ich hatte im vergangenen Jahr eine riesige Debatte mit den Fans von Morrissey, in der es um seine Aussagen ging, nach denen es keine Redefreiheit mehr gäbe – das war, nachdem er für einige offensive Kommentare angegangen worden war. Das ist ja das Absurde: Zu beklagen, man könne dieses oder jenes nicht mehr sagen, nachdem man es doch bereits geäußert hat. Was die Leute tatsächlich meinen, ist der Umstand, dass sie sich für all die Dinge, die sie rausblasen, nicht rechtfertigen wollen. Niemand will für seine beleidigenden Kommentare verantwortlich gemacht werden. Die Leute meinen wohl, es sei früher okay gewesen, rassistische, sexuell offensive oder sonstige diskriminierende Dinge zu sagen, und so möge es doch bitte schön bleiben. In einer Welt von #metoo und Black Lives Matter ist jedoch ein Kontext entstanden, in dem reaktionäre Typen sich zunehmend verantworten müssen.
Wenn Sie dabei an sich selbst denken, haben Sie sich diesbezüglich verändert?
Als Teenager war meine Sprache dermaßen sexistisch, da muss ich nur auf einige meiner Songs von damals gucken. Ich war nicht gebildet genug, ich hatte nicht erfasst, was richtig und was falsch ist. Über die Jahre habe ich mich und meine Denkweise, meinen Diskurs geändert. Die Leute, die behaupten, sie dürften nichts mehr sagen, haben dagegen in Wirklichkeit keinen Bock darauf, ihre Haltung und Einstellung zu überdenken. Das nämlich hieße, Verantwortung zu übernehmen, und davor scheuen sie sich.
Verantwortung ist eine der drei Dimensionen von Freiheit aus dem Titel Ihres Buches. Dazu kommen Liberalität und Gleichheit. Das hätte für Sie als Musiker bestimmt auch ein schönes Konzeptalbum ergeben, warum ein Buch?
Die Themen sind zu vielschichtig, um sie in Songs zu verpacken. Dazu braucht man mehr Zeit und Raum als einfach nur einen Song, der zum Zeitgeist passt. Vor 30 Jahren war es einfacher für mich, mit einer Platte in die Charts zu kommen und so meine Hörer zu finden. Aber ich bin halt lange dabei. Wenn ich heute ein Album veröffentliche, dann sind die Ausschläge nicht mehr so groß. Wenn ich aber ein Buch schreibe, dann kann ich meine Gedanken in einer viel größeren Bandbreite ausdrücken. Als der Verlag mich fragte, ob ich Lust hätte, so ein Pamphlet zu schreiben, gefiel mir die Idee. Wie man Songs schreibt, weiß ich. Ein Buch ist noch mal eine ganz andere Größenordnung.
Wie schwierig war der Wechsel vom kurzen Song zur langen Form?
Ein Song gibt dir die Möglichkeit, einen präzisen, kurzen Reizpunkt zu setzen. Ein Buch ist wie eine Reise durch die Landschaft, auf einen Berg hinauf, von dessen Gipfel du einen viel besseren Blick, eine bessere Perspektive hast, als wenn du am Boden geblieben wärst. Die Ideen waren alle bereits vorhanden.
In Ihrem Song North Sea Bubble aus dem Jahr 1991 beziehen Sie sich auf Thomas Paine, einen politischen Vordenker aus dem 18. Jahrhundert. Paine spricht davon, dass keine Revolution der anderen gleicht, sondern jede mit den unterschiedlichen Kulturen zusammenhängt, die sie letztlich hervorbringen. Könnte es sein, dass Paine heute widerlegt ist, ausgehend von der Tatsache, dass der Populismus das große Problem unserer Zeit ist, ganz gleich in welchem Land oder in welcher Kultur?
Möglich, dass das schon immer der Fall gewesen ist, dass wir es aufgrund der verschiedenen ideologischen Sprachen im 20. Jahrhundert aber nicht realisiert haben. Ich für meinen Teil war nie revolutionärer Sozialist, ich hatte immer meine Zweifel daran, dass es eine originäre Idee gibt, die wirklich allen gerecht wird. Mir ging es immer mehr um Ermächtigung, darum, wie eine Revolution den Menschen mehr Rechte geben könnte. Im Kern geht es immer um diese drei Dinge: Verantwortlichkeit, Gleichheit, soziale Freiheit. Aus diesen Faktoren kann man neue Ideen konstruieren, die den Menschen mehr Macht und Kontrolle über ihr Leben geben. Wenn Menschen sich hilflos und übergangen fühlen, wenden sie sich nach innen, weg von Aktivitäten. Damit sie sich aber zusammentun und für etwas einsetzen, müssen sie eine Vorstellung davon haben, dass Veränderungen möglich sind, etwa um eine bessere Welt für unsere Kinder zu schaffen. Wenn man daran nicht glaubt, dann ist man viel anfälliger für Zynismus. Und dieser Zynismus wiederum ist so etwas wie die Standard-Einstellung der sozialen Medien.
Wie groß ist Ihr Glaube an Veränderungen?
Als Songschreiber habe ich den Leuten immer gern verschiedene Perspektiven angeboten, ob es nun um Tagespolitik ging oder um ihre Gefühle. Die Lieder, die mich als Zuhörer am meisten berührt haben, waren jene, die mir einen anderen Blick auf eine bestimmte Situation geboten haben, die mir das Gefühl gegeben haben, dass ich nicht der Einzige bin, dem es so geht, ob es sich nun um Liebe drehte oder um soziale Themen. Mit dem Buch versuche ich genau das auch zu tun. Ich glaube nicht, dass Künstler den Menschen wirkliche Antworten geben können, aber sie können die richtigen Fragen stellen, um ein Thema zu beleuchten, damit Menschen danach ihre eigenen Entscheidungen besser treffen können.
Wie wäre es mit Ihnen als Politiker? In den 80er-Jahren waren Sie mit der „Red Wedge“-Bewegung gegen Margaret Thatcher aktiv.
Das war mehr so ein Künstler-Ding, das man im zeitlichen Kontext sehen muss. Die Chefredakteure der vier großen Musikmagazine Englands waren Teil der 68er-Generation. Die Idee, dass Musik die Welt verändern könnte, war noch überaus lebendig. Die Musik-Wochenzeitungen gaben uns den Raum, unsere Ideen zu verbreiten. Das war damals so etwas wie unsere Facebook-Seite. Musik war ein soziales Medium, damit wurden Verbindungen hergestellt. Letztlich war es aber eher eine kulturelle als eine politische Bewegung.
Wo ist diese kulturelle Bewegung heute? Warum sind da nicht mehr Bands, die sich artikulieren?
Musik besitzt einfach nicht mehr die führende Rolle unter Jugendlichen wie zu meiner Zeit. Als ich 19 war und angefressen von was auch immer, habe ich Gitarre spielen gelernt, Songs geschrieben und Konzerte gegeben. Wenn du heute sauer bist, kannst du in den sozialen Medien sofort Dampf ablassen. Musik übernimmt schon noch die Aufgabe, Menschen zusammenzubringen, aber sie hat kaum noch diese klare Kante. Wobei es auch Ausnahmen gibt, zum Beispiel die Grime-Szene in Großbritannien. Die besitzt noch richtig Kraft, auch deshalb, weil diese jungen Leute von der Mainstream-Kultur weitgehend ausgeschlossen sind, so wie es im 20. Jahrhundert noch fast allen Jugendlichen ergangen ist. Heute sind es schwarze Kids, die sich ausgegrenzt fühlen – und genau das in ihre eigene musikalische Energie umsetzen. Es gibt aber auch ein paar neue Gitarrenbands wie Fontaines D.C. oder Idles, die einen großartigen Punk-Spirit verkörpern. Das sind Künstler, die in der Lage sind, den Druck, den sie fühlen, in Kreativität umzusetzen. Das funktioniert anders als damals – und das ist eine großartige Sache. Man kann von der heutigen Generation nicht erwarten, dass sie solche politischen Songs schreibt, wie wir es vor 50 Jahren getan haben.
Spricht man als ein politischer Autor und Songwriter heutzutage womöglich eh nur noch zur eigenen Filterblase? Predigt man für die Bekehrten?
Dazu kann ich zwei Sachen sagen. Ich habe mal ein Album veröffentlicht, das England, Half English heißt und sich um nationale Identität dreht. Was meinen Sie, wie mein linkspolitisches Publikum darauf reagiert hat? Die hatten keinen Bock, über so etwas zu reden. Der Titelsong endet mit den Worten: „My country, my country, what a beautiful country you are.“ Ein Freund von mir, ein Linker, sprach mich darauf an. Er hielt das für Ironie. Ich sagte: „Nein, das meine ich nicht ironisch.“ Ich liebe mein Land. Darüber habe ich auch ein Buch geschrieben: The Progressive Patriot. Du musst dein Publikum herausfordern, das ist der eine Punkt. Ich predige hier also nicht zu den Bekehrten, ich versuche, ihre Motivation, ihre Energien aufzufrischen, denn es ist an ihnen, die Welt zu verändern. Der zweite Punkt dreht sich um das Thema Veränderung. Künstler bringen keine Veränderung, es sind Bewegungen, die das erreichen. Wenn Sie meinen, es reiche aus, ein Buch oder einen Song zu schreiben – da kann ich Ihnen versichern, dass Sie Ihre Zeit verschwenden. Ich mache das seit 35 Jahren. Musik allein wird die Welt nicht verändern. Ich meine das auf keinen Fall zynisch, im Gegenteil. Musik spielt eine ganz wichtige Rolle, eben weil sie den Leuten hilft, ihren Zynismus abzulegen und neuen Antrieb zu finden. Ich versuche, Solidarität zu vermitteln, die Idee von kollektiver Aktion. Ein Song mag die Welt nicht verändern, das heißt aber nicht, dass man es nicht trotzdem ausprobieren sollte.
Wer wäre wohl eher ein Billy-Bragg-Leser – Jeremy Corbyn oder Boris Johnson?
Das ist eine gute Frage. Ich war ja schon überrascht, dass die verdammten Tories meine Platten hören. (lacht) George Osborne, der ehemalige Schatzkanzler, kennt den Text von A New England auswendig.
Der ehemalige Premierminister David Cameron zählt Eton Rifles von The Jam zu seinen Lieblingssongs. Paul Weller war davon überhaupt nicht begeistert.
Ich kann mich noch genau an die Radioshow erinnern. Ich saß im Auto, es regnete und ich wartete auf meinen Sohn. Da war also David Cameron im Studio zu Gast und stellte seine Lieblingslieder vor. Er spielte auch irgendeinen Song von den Smiths, Johnny Marr war auch total angefressen danach. Ich dachte nur: „Fuck me, er wird doch nicht mein Stück Between The Wars spielen? Diese Sendung muss zu Ende sein, bevor er einen von meinen Songs spielt.“ Glücklicherweise kam er nicht mehr dazu. Das Büro von David Davis, unter Theresa May Brexit-Minister, hat sogar mal bei mir angerufen. Das muss man sich mal vorstellen. Ich dachte, es geht um Glastonbury-Tickets.
Tickets für das Festival?
Ja, ich habe dort eine Bühne, und Sie würden sich wundern, wer sich bei mir meldet, um Karten zu bekommen. Aber Davis wollte über mein Buch The Progressive State sprechen. Unglaublich. Für mich war es zwar nicht der richtige Zeitpunkt, um mit den Tories zu reden. Dennoch: Wenn du Billy Bragg bist, dann musst du den Leuten ab und zu etwas bieten, das sie darüber rätseln lässt, wer du eigentlich bist. Sonst wirst du ein Cartoon-Linker. Ich mag den Gedanken nicht, dass die Leute mich allzu genau kennen und immer wissen, was ich zu einer Sache zu sagen habe. Das geht mir auf den Sack.
Zur Person
Billy Bragg, geboren am 20. Dezember 1957, sah als Teenager ein Konzert der UK-Punks The Clash, wenig später gründete er eine eigene Band. Der Durchbruch gelang ihm als Solo-Musiker, der politische Themen, Alltagsbeobachtungen und Beziehungsprobleme in Gitarren-Songs verarbeitet. Neben seiner Arbeit als Musiker und Autor politischer Bücher engagiert sich Bragg auch politisch, etwa für die Labour-Partei.
コメント