top of page
Redaktion

Interview: Primal-Scream-Sänger Bobby Gillespie über die Urgewalt von Punk


Robert „Bobby“ Gillespie Primal Scream
(c) Sarah Piantadosi

Bobby, neben den Feierlichkeiten zum Screamadelica-Jubiläum hast du zuletzt neues Terrain beschritten. Du hast zum einen das Album Utopian Ashes zusammen mit Savages-Frontfrau Jehnny Beth veröffentlicht, eine tiefgründige Songsammlung über die Vergänglichkeit der Liebe. Ja, das war ein ungewöhnliches Projekt, das ziemlich unterschiedlich aufgenommen wurde. Einerseits bekamen wir kaum Airplay, andererseits gab es Feedback von Frauen in den 50ern, die erzählten, wie sehr sie diese Lieder angesprochen hätten. Jehnny und ich müssen also irgendetwas richtig gemacht haben. Vielleicht braucht so ein Album einfach seine Zeit. In 20 Jahren gilt es womöglich als Klassiker.


Deine Biografie Tenement Kid ist das andere Großprojekt. Welches sind deine persönlichen Favoriten unter den Musiker-Biografien?

Ich liebe Hellfire, die Geschichte von Jerry Lee Lewis. Der Mann ist ein einziger Mythos. Nick Tosches, der Autor, hat einen Wahnsinnsjob gemacht, allein die Tatsache, dass er sich dieser Geschichte angenommen hat. Das ist für mich die Messlatte, was Musikbiografien angeht. Ein weiterer Favorit ist Papa John von John Phillips (The Mamas And The Papas, Anm. d. Red.). Was für ein Stoff. Das Ganze wird mit jeder Seite abgründiger, die Geschichten, die Drogen, so dekadent, so offen. Phillips hatte bestimmt einen Ghostwriter, zudem kann ich mir nicht vorstellen, dass ein Anwalt das jemals gegengelesen hat.

Wie bist du das Schreiben angegangen?

Lee Braxton vom Verlag Faber & Faber hat mich schon vor zehn Jahren angesprochen und meinte, ich solle meine Geschichte mal aufschreiben. Da war ich aber noch nicht so weit. Das war die Zeit, in der ich mit Drogen und Alkohol aufgehört habe, eine Phase, die sehr von Scham und Schuldgefühlen geprägt war. Damals war ich noch nicht in der Lage, so ehrlich über mein Leben zu schreiben. Zudem wollte ich nicht die x-te Autobiografie mit den ewig gleichen Geschichten herausbringen. Ich wollte meine Sicht der Dinge schildern, als Kind der Arbeiterklasse. Ich wollte davon erzählen, wie wir Kids vom Schulsystem völlig übersehen wurden, und wie stattdessen Rockmusik und Punk zu meiner Bildung wurde.


Deine Eltern spielten zudem eine große Rolle.

Ich wollte mich bei ihnen bedanken. Sie waren ein so prägender Einfluss für mich, musikalisch, kulturell und politisch natürlich, besonders mein Dad spielte da eine große Rolle. Beide waren so aufgeschlossen und progressiv. Außerdem lief bei uns zuhause immer Musik. Mein Vater ging mit mir zusammen in den Plattenladen, das war großartig. Musik machte mich überhaupt erst zu einem Texter, zu jemandem, der sich für Lyrik interessiert. Von der Schule war in der Hinsicht nichts zu erwarten. Ich erinnere mich, dass wir mal Of Mice And Men von John Steinbeck durchgenommen haben. Das war es aber auch schon.

Was war es, das dich so extrem zur Musik zog? Diese besondere Empfänglichkeit dafür trägst du schon als Kind in dir, das passiert nicht erst mit 19 oder 20 Jahren. Vielleicht kannst du noch nicht genau sagen, was es ist, aber das Gefühl ist bereits da, die Emotionen, die ein Song in dir auslösen kann. Das verinnerlichst du ganz früh, später findet es seinen Weg nach außen, du lernst, was all das bedeutet. Du findest deinen Stil und vielleicht bringt es dich dazu, selbst Musik zu machen. Bei mir passierte das unweigerlich, es gab keine andere Möglichkeit. Zunächst findest du womöglich das gut, was angesagt ist, was alle hören. Aber wenn du selbstbewusst genug bist und neugierig, dann zieht es dich hin zur Quelle. Dann willst du mehr wissen, über Künstler wie Hank Williams oder Ray Charles. Einige Leute sind zudem empfänglicher für solche Dinge, sie sehen, was andere möglicherweise nicht sehen.

In diesen jungen Jahren warst du bereits auf deinem ersten Rock-Konzert: Thin Lizzy im Glasgow Apollo.

Eine unglaubliche Show. Ich habe sie vier Mal zwischen 1976 und 1979 gesehen, mit Phil Lynott. Absolut unvergesslich.

Du gingst zusammen mit Alan McGee. Ihr wurdet Freunde, McGee gründete später das Creation-Label und nahm Oasis unter Vertrag. Ich kannte Alan nur vom Sehen. Er war einer dieser Typen, die immer mit Schallplatten unterm Arm durch die Gegend liefen. Niemals in einer Tüte, immer gut sichtbar, damit ja jeder mitbekommt, was für ein Checker das ist. Er stand total auf David Bowie, auf Young Americans und Station To Station. Ich habe neulich erst gelesen, dass Bowie auf Jethro Tulls Aqualung abfuhr, das hätte ich nicht gedacht. Daraufhin habe ich mir nochmal den Titeltrack von Station To Stationangehört und gedacht, dass da wohl doch etwas dran sein könnte.

Bobby Gillespie Primal Scream
(c) Sarah Piantadosi

Welchen Unterschied machte Punk? Was setzte er bei dir frei?

Ich war zu der Zeit so dermaßen empfänglich dafür, alle meine Sinne waren offen. In der Schule lief es nicht, ich wollte alles hinschmeißen und lebte nur so in den Tag hinein. Was meine Zukunft anging, hatte ich keinen Plan. Dann sah ich zum ersten Mal ein Foto von Johnny Rotten. Das löste in mir so extreme Gefühle aus. Ich liebte Bowie, ich liebte Phil Lynott, aber das hier war etwas völlig anderes. Als hätte es einen direkten Zugang zu meiner Psyche. Ich wusste nicht mal, dass er Johnny Rotten hieß. Diese Kreatur machte mich einfach unglaublich neugierig. Wer ist das? Was ist sein Auftrag? Dann hörte ich Sheena Is A Punkrocker von den Ramones im Radio, Peaches von den Stranglers. Das gefiel mir großartig. Dann kam diese Musik auch noch in die Charts und wurde populär. Das alles stellte bei mir die Weichen für Punk. Davor habe ich Nazareth und Deep Purple gehört und hatte ein Poster von Roger Dean an der Wand meines Zimmers – alles super, aber eine Platte von Dr. Feelgood war einfach etwas völlig anderes. Ich war besessen von Dr. Feelgood. Irgendwann waren The Clash auf dem Cover vom New Musical Express, ich kaufte mir das Magazin daraufhin zum ersten Mal. Ab Frühjahr 1977 ging es Schlag auf Schlag. Plötzlich waren die Stranglers bei „Top Of The Pops“. Das war auch der Unterschied zu den USA, die waren dermaßen hinterher. Da passierte alles noch in den kleinen Kaschemmen von New York, bei uns lief es bereits im Fernsehen. Deswegen sind die Ramones auch nach England gekommen. Ich liebte natürlich immer noch Status Quo und Thin Lizzy, aber jetzt ging ich zu Konzerten von The Damned, The Clash und The Jam. Auch X-Ray Spex und Siouxsie wurden erfolgreich. Es war fantastisch! Als 15- oder 16-Jähriger hast du die Zeit deines Lebens. Du saugst das alles auf. In dem Alter willst du nicht Joni Mitchell oder James Taylor hören, das kommt vielleicht später, du willst die pure Energie. Und Punk bot das alles!

Wie wurdest du vom Fan zum Musiker, gab es ein bestimmtes Ereignis?

Das war Anfang 1979, da hörte ich von einem Punk-Gig in einem kleinen Club, nichts Besonderes. Eine PA, ein paar Boxen, in der Mitte der Bühne stand der Mikroständer. Von der Band war noch nichts zu sehen. Es wirkte fast so, als hätte man alles aufgebaut, damit sich irgendjemand auf die Bühne stellt und anfängt zu spielen. Ich stand ganz allein da und konnte meinen Blick einfach nicht von diesem Mikroständer abwenden. Genau wie bei dem Bild von Johnny Rotten: Ich musste hinstarren. Nicht die Drums, nicht die Amps, nein: das Mikro. Heute denke ich manchmal, dass in dem Moment alles begann, die Saat gesät wurde. Mein Erweckungserlebnis, mein heiliger Gral. (lacht)

Dein erster Gig wurde gleich ein Double-Header, The Jesus And Mary Chain und Primal Scream an einem Abend. Du spieltest in beiden Bands.

Das stimmt, wobei ich mich nicht an allzu viele Details vom Abend selbst erinnern kann. Die Nachricht von einem Anschlag auf Margaret Thatcher machte jedenfalls die Runde, das war also von vornherein ein außergewöhnlicher Tag. Wir hassten sie, sie stand für Krieg und Repression. Der Gig selbst war nicht so spektakulär, die Leute rasteten nicht aus, wir waren zwei unbekannte Bands. Ich hatte den Laden gebucht, die Plakate gestaltet, die Anlage besorgt. Ich hatte die ganze verdammte Arbeit, wenn ich mir das jetzt nochmal so überlege. (lacht). Wenigstens haben wir kein finanzielles Minus gemacht. Das war im Oktober 1984, wenig später waren wir mit The Jesus And Mary Chain zum ersten Mal in Deutschland auf Tour, ein Creation-Package mit McGees Band Biff Bang Pow! und den Jasmine Minks.

Ihr wart damals sogar im deutschen Fernsehen zu sehen, eine denkwürdige Performance mit Playback, voll juveniler Arroganz.

Verdammt, daran erinnere ich mich sogar, das war eine Familiensendung, eine Unterhaltungsshow. Wir passten da überhaupt nicht hinein. Der Moderator war ein netter Typ, aber das war alles völlig schräg: „Here are ze Jeezis and Merry Chain!“. Wahnsinn. Wir haben uns kaputtgelacht. Wir haben das sehr genossen.


Warum war Lärm und Aggression so ein integraler Teil der Band?

Da musst du die Reid-Brüder fragen, es war ihre Musik.


Von Primal Scream gab es mal die Aussage, dass es bei einem Konzert nur um eins ginge: Wir gegen das Publikum, wie im Krieg.

Das war eher die Sichtweise von Rob Young, unserem 2014 verstorbenen Gitarristen. Rob befand sich im Krieg mit der Welt. Er kämpfte mit seinen persönlichen Dämonen. Vieles davon beruhte auf dem schwierigen Verhältnis zu seinem Vater. Wenn Rob auf die Bühne ging, war immer eine Menge Aggression im Spiel. Er war aber kein brutaler Typ, sondern ein wirklich guter Kerl. Die Bühne war für ihn ein sicherer Ort. Ich fühlte so ähnlich, es ist dieses Teenager-Ding: Wir gegen den Rest der Welt. Die einen gründen eine Gang, die anderen eine Band.

Mit Primal Scream nahm deine musikalische Karriere Anfang der 90er richtig Fahrt auf. Der Moment, in dem sich der Wind drehte, lässt sich ziemlich gut festlegen.

Das passierte alles im Zusammenhang mit dem Song Loaded und dem Mix, den Andrew Weatherall davon anfertigte. Das war der Durchbruch, darauf hatten wir gehofft. Vorher gab es vielversprechende Platten von uns, aber das war nun ein ganz anderes Ding. Dabei war Loaded nicht der eine Song, der den Unterschied machte, das ganze Album Screamadelicastach heraus, damit hatten wir ein ganz neues Niveau erreicht.


Dekaden später ist das berühmte Strichmännchen-Cover Teil einer limitierten Briefmarken-Edition der britischen Royal Mail. Ein ganz schöner Weg für den jungen Punk von einst.

Ja, großartig. Paul Cannell, der das Covermotiv gemalt hat, war ein Anarchist und ein Junkie. Die Ironie des Ganzen – sein Bild mit dem Porträt der Queen auf einer Briefmarke –, das hätte ihm sehr gefallen. How the fuck did that happen?Absolut fantastisch. Er hätte es geliebt.


Du hast mit so vielen Größen die Bühne geteilt, so viele Ikonen getroffen. Gab es besondere Begegnungen?

Da kann ich aus dem Stand die drei wichtigsten nennen. Ich habe Fay Fife von den Rezillos getroffen, wobei ich nicht mal richtig mit ihr gesprochen habe. Ich hatte 1978 bei einem Gewinnspiel das neue Album gewonnen. Ich habe die Rezillos geliebt. Vor dem Konzert gab sie mir ein Küsschen, dazu die Platte und Freikarten. Ein halbes Jahr später sind McGee und ich zu einem Konzert von Generation X gegangen, in Ayr an der schottischen Westküste. Nach dem Gig gingen wir zum Bühneneingang. Da stand nur ein Typ herum, der uns direkt durchwinkte, in Glasgow wäre so etwas niemals möglich gewesen. Wir trafen Billy Idol, der totale Rockstar, von Kopf bis Fuß in Leder, und er war großartig, total herzlich. So ein großartiger Typ! Wiederum ein Jahr später war ich bei einem Konzert von The Fall, toller Gig, nicht übermäßig voll. Danach bin ich backstage gegangen, hing dort ein bisschen ab und plötzlich steht Mark E. Smith im Gang. Ich war vorher noch an ihm vorbeigelatscht, aber dann habe ich ihn angesprochen und nach bestimmten Songtexten und Liedern gefragt. Und auch Mark war sehr nett zu mir. Diese Begegnungen waren fundamental und prägend.

Im Sommer hast du deinen 60. Geburtstag gefeiert, war das problematisch?

Nein, gar nicht. Du musst so etwas annehmen, statt dich zu verweigern. Die Party war fantastisch. 60 ist das neue 30. (lacht) Es gibt Leute von früher, die ihre Jugendzeit irgendwann abgestreift und dieses Punk-Ding hinter sich gelassen haben. Sie fingen an, sich normal zu kleiden. Das bedeutet aber nur, dass sie letztlich immer normale Typen waren, und das Ganze nur eine Art Jugenduniform war. Ich habe nie so empfunden, für mich kam das niemals in Frage.


Ist ein zweiter Teil von Tenement Kid geplant? Das Buch endet 1991 und schreit nach einer Fortsetzung.

Ja, die Leute vom Verlag scharren auch schon mit den Hufen, aber das wird ein wenig dauern. Jetzt habe ich erst einmal wieder Musik auf dem Zettel.

 

Zur Person

Am 22. Juni 1962 in Glasgow geboren, entdeckt Robert „Bobby“ Gillespie früh seine Liebe zum Rock’n’Roll. Als Schlagzeuger von The Jesus & Mary Chain, später als Frontmann von Primal Scream wird er zu einem der prägenden Köpfe von Britpop und Alternative Rock. Das Album Screamadelica feierte 2021 seinen 30. Geburtstag.


Tenement Kid

Bobby Gillespie 24 € | 528 Seiten

Wie das Kind aus der Mietskaserne zur Musikikone aufsteigt, davon erzählt Gillespie in diesem fulminanten Pageturner. Das prägende Arbeiterklassen-Elternhaus, die harte Schule Glasgows, erste Bands, Erfolge und Abstürze, dazu ein ganzes Füllhorn an großen Namen und Anekdoten – Gillespies Erstling ist eines der unterhaltsamsten Musikbücher der noch jungen Dekade.

Aktuelle Beiträge

Alle ansehen

Comments


bottom of page