Micha, wie schaut es in diesen Tagen mit Fußball aus – guckst du die WM?
Nein, jetzt aktuell gerade nicht.
Setzt du auf Boykott? Das ist vielleicht ein bisschen zu hoch gegriffen, aber es ist definitiv die erste WM, die ich nicht schauen mag.
Sprechen wir über dich. Wo kommst du her? Ich bin als Kind des Bildungsbürgertums im maximal privilegierten Schwabenländle großgeworden. Mit 20 Jahren bin ich zum Studieren nach Heidelberg, Nottingham und dann nach Hamburg gegangen. Dort bin ich über die Liebe, die Freundschaft und die Verbindung zu Benny Adrion bei Viva con Agua reingeschlittert.
Ein glücklicher Zufall?
Ja, das war so nicht geplant, eigentlich wollte ich Lehrer werden, bin dann aber bei den Aktivisten gelandet.
Was für ein Typ Schüler warst du, hast du dich schon früh engagiert – als Klassensprecher oder in der Schülervertretung?
Schon engagiert, aber eher als Klassenclown. (lacht)
Gab es Aktionen, die in die Geschichte deiner Schule eingegangen sind?
Da gab es so einige, aber ob die in die Geschichte eingegangen sind, weiß ich nicht. Ich konnte schon immer ganz gut disruptive Momente setzen. Mir ist zudem ziemlich schnell langweilig, da ist es dann immer ganz gut, den Status quo mal herauszufordern.
Warst du vor deiner Arbeit für Viva con Agua schon mal sozial tätig?
Ich habe im Rahmen des Zivildienstes 18 Monate lang als Rettungssanitäter gearbeitet. Mein Vater ist Pathologe, von daher bin ich in so eine idealistisch-engagierte Seite hineingeboren worden, da gab es immer einen sozialen Aspekt. Ein klassisches Ehrenamt habe ich aber nie gehabt. Da gab es nie ein Angebot, das mich ansatzweise überzeugt hat.
Das hat sich in Hamburg geändert. Wie ging das Ganze los?
Die erste Idee, überregional tätig zu sein, war die Pfandbecher-Aktion 2007, bei der wir auf allen Musikfestivals im Einsatz waren. Von Mai bis Oktober habe ich praktisch auf Open-Air-Festivals gelebt, war nonstop für diese Sammelaktion am Start. Auf dem Southside, auf dem Summerjam, Splash, Deichbrand, M’Era Luna und wie sie alle heißen, war ich unterwegs, und habe versucht, die Musiker*innen zu aktivieren, dass sie bei dieser Aktion mitmachen, und das auch auf den Bühnen anmoderieren. Die Ärzte haben sofort mitgemacht. Wir hatten dann praktisch tausende Ehrenamtliche, die für Viva con Agua auf Festivals gegangen sind und für sauberes Trinkwasser Pfandbecher gesammelt haben. Dadurch entstand schnell die Verbindung zur universellen Sprache der Musik, später mit der Millerntor Gallery zu Kunst, Schabernack und Sport.
Wie kam es zu der Zusammenarbeit mit Gründer Benjamin Adrion und damit dem FC St. Pauli?
Ich bin mit Benny aufgewachsen. Der war ja damals Linksverteidiger bei St. Pauli und hatte mit dem Verein irgendwann ein Trainingslager auf Kuba, als erste westliche Mannschaft überhaupt. Dort ist die Idee entstanden, sich als exponierter Profifußballer für sauberes Trinkwasser zu engagieren.
Wie ging es von da aus weiter?
Ein Jahr lang haben wir erst einmal nur Spendengelder gesammelt, die aufs Konto der Welthungerhilfe gingen. Danach haben wir erst den Verein gegründet. 2008 sind wir zu Fuß nach Basel gelaufen, 39 Tage lang. Aus dieser Aktion ist Viva con Agua Schweiz entstanden, 2013 kam Österreich dazu. 2010 haben wir unser Wasser auf den Markt gebracht, 2011 gab es das erste Kunstfestival im Stadion, wo wir Künstler:innen eine Plattform zur Verfügung stellen, um ihre Kunst zu zeigen und zu verkaufen. Die Hälfte vom Ertrag geht in die Wasser-Projekte, die andere Hälfte bleibt bei den Künstler:innen. Auf diese Weise haben wir das alles peu à peu aufgebaut.
Das hört sich im Rückblick so an, als wäre alles geplant gewesen. War es denn von Anfang überhaupt schon derart langfristig und nachhaltig gedacht? Das hat sich alles nach und nach erst entwickelt. Es hat auch nicht alles funktioniert, was wir gemacht haben. Das sieht in der Retrospektive natürlich alles unglaublich erfolgreich aus, dabei war einiges auch Scheiße und hat nicht funktioniert, aber vieles dann eben schon. Engagement so sexy und simpel strukturiert wie möglich zu machen, darum ging es. Spenden kommen zum Großteil von über 60-Jährigen, die Jugendkultur ist sehr wenig dabei, wenn es um die Gesamtsumme geht. Es ging darum, ein Angebot zu schaffen, das wir auch persönlich attraktiv fanden. Wir waren selbst auf Festivals unterwegs und haben Fußball gespielt, da wollten wir neue Felder generieren. Social Business als solches gab es 2010, als wir angefangen haben, noch nicht. Um auf die Frage zurückzukommen: Nein, das war nicht so strategisch geplant. Ich war ganz lange ehrenamtlich im Einsatz, mittlerweile habe ich jede Gehaltsklasse durchlaufen. Was aus Viva con Agua alles entstanden ist, dass es das jetzt in acht verschiedenen Ländern gibt, eine Stiftung gegründet wurde, verschiedene Social Businesses – das war alles nicht der Plan. Es ging darum, sich auf eine Art sozial zu engagieren, die uns einerseits Freude bereitet, aber gleichzeitig auch andere inspiriert, etwas für Menschen zu tun, die eben dieses Privileg des sauberen Trinkwassers nicht habe
Du hast den Wassermarsch in die Schweiz erwähnt. Wie ging das vonstatten, bist du die komplette Strecke von Hamburg nach Basel mitgelaufen, über 1.000 Kilometer in 39 Tagen?
Ja, das bin ich, bis auf zwei oder drei Tage. Einmal hatte ich eine Verletzung am Bein, einmal hatte ich… also, das klingt jetzt vielleicht blöd… aber seitdem habe ich Hämorrhoiden. Ich musste zum Proktologen, nachdem wir 26 Kilometer lang Rollstühle für Afrika präsentiert haben. Danach war mein Hintern am Arsch, um es mal so deutlich zu sagen. Sorry, aber so ist es leider. Seitdem gibt es aber auch Viva con Agua Schweiz.
Entstand daraus die Goldeimer-Idee, gibt es da einen Zusammenhang mit dem Viva-con-Agua-Klopapier?
Nein, aber das ist auch eine interessante Geschichte. Tobias Rau, einer unserer Mitgründer, ist irgendwann nach Kiel gegangen, weil er in Hamburg keinen Studienplatz bekommen hat. Dort hat er alle vollgelabert, woraus schließlich Viva con Agua Kiel entstanden ist, als eine der ersten Zellen. Mittlerweile sind wir in 55 Städten aktiv, München, Eichstedt, Ravensburg. Toby hat das Tramp-Rennen für Viva con Agua mitentwickelt. Da trampen Leute von A nach B und suchen sich Sponsoren im Umfeld. Irgendwann ist Toby dann nach Burkina Faso mitgeflogen und hat sich dort ein Projekt angeschaut, um einfach mal zu sehen, wofür er das ganze Ehrenamtliche so macht. Es ist sehr wichtig, dass all die Leute, die sich engagieren, auch mal sehen, was denn der Output des Ganzen ist. Das verändert dich, wenn du irgendwann an einem neugebauten Brunnen stehst oder eine Toilette siehst, wo es vorher keine gab. Da fällst du wie Obelix in einen Demutskessel und kannst dich immer wieder engagieren. Lange Rede, kurzer Sinn: Toby bekam vor Ort die Diarrhoe des Grauens und musste sich ausfliegen lassen, weil es so dermaßen schlimm wurde. Das ist ja der große Irrglaube: Du stirbst nicht daran, dass du kein Wasser hast, du stirbst daran, dass du dreckiges Wasser trinkst. Toby ist also zurück nach Kiel, bekam Antibiotika und wurde wieder gesund. Dann hatte er seine Professorin gebeten, über Toiletten und Sanitärversorgung zu schreiben und hat im Zuge dessen Kompost-Toiletten entdeckt, die er auf die Festivals bekommen hat. Daraus ist die Idee mit dem Klopapier entstanden. Wir verkaufen mittlerweile eine Millionen Packungen im Jahr. Das Nachhaltigste wäre natürlich, wenn man seine linke Hand benutzt, wie es viele Länder in Asien tun, aber wenn ihr schon Klopapier braucht, dann könnt ihr auch unser soziales Recyclingpapier kaufen. So ist eigentlich die Idee von Goldeimer entstanden. Das wirkt jetzt auch wieder wie ein strategischer Marketing-Schachzug, aber das hat sich alles ganz natürlich ergeben. Weil Toby Diarrhoe in Burkina Faso bekommen hat.
Welche Rolle spielt die Millerntor Art Gallery in dem ganzen Projekt?
Kunst als solche bietet ja unbegrenzte Möglichkeiten, Leute zu begeistern, zu aktivieren und zu inspirieren. Der Raum im Millerntor-Stadion als solches – und da rede ich nur von den Katakomben – war wirklich hässlich. Gelber Boden, braune Decke, echt nicht schön. Aus einer Schnapsidee heraus mit Fotograf Henning Heide entstand die Idee, Bilder der Leute vom ‚Alten Stamm‘, also der ganz alten Pauli-Fans, auszustellen, um auf die Art eine Verbindung von alt und neu zu kreieren. Aus der Ausstellung wurde im Anschluss das Kunst- und Kulturfestival, wo mittlerweile um die 15.000 Besucher:innen kommen. Da bekommen Künstler:innen eine Plattform geboten, die sonst nicht unbedingt Teil des westlichen Kunstmarktes sind, aus Uganda, aus Äthiopien, aus Kenia, Mozambique, Indien und Nepal. Im Prinzip ist das eine soziale Galerie, bei der die Erlöse auch wieder halbe-halbe geteilt werden.
Wäre das Ganze eigentlich woanders möglich gewesen…
Nein.
…der Spirit von St. Pauli ist schon Teil der DNA des Ganzen, oder?
Ganz klar. Benny hat ja auch beim VfB Stuttgart gespielt und bei Eintracht Braunschweig, da hast du dieses ganze, nennen wir es mal, kulturelle Ökosystem, ja gar nicht. Hier hat uns Bela B von Anfang an supportet, Fettes Brot genauso. Klar haben auch andere Vereine ihre VIP-Fans oder Personen des öffentlichen Lebens, aber hier beim FC St. Pauli ist das etwas ganz anderes. Ein Fußballverein, direkt im Herzen der Stadt, der erste Fußballverein, der eine Stadionordnung gegen jegliche Form von Sexismus, Rassismus oder Homophobie hat. Der erste Verein, der einen schwarzen Spieler in Deutschland unter Vertrag hatte. Intrinsisch ist das soziale Engagement in der DNA verwurzelt und wird vielleicht sogar höher als der sportliche Erfolg bewertet, was zuweilen auch mal zu Spannungen führen kann. Der Verein wurde ja ausdrücklich als Viva con Agua de St. Pauli e.V. gegründet und wird immer so heißen.
Mittlerweile gehört sogar ein Hotel zum Portfolio. Was hat es damit auf sich?
Das war auch so eine klassische Schnapsidee. Wir haben bei einer Projektausschreibung mitmachen dürfen, da ging es um ein Gelände hinter dem Hamburger Hauptbahnhof. Wir haben dort ein Konzept für den Social Business Tower eingereicht und damit gewonnen. Inhaltlich war es am besten, wir mussten das Ganze aber noch anpassen, weil sich das Social Business den Mietpreis nicht leisten konnte. Eine der Ideen von Viva con Agua war es schon immer, Menschen mit Organisationen zu verbinden. Da ist ein Gasthaus natürlich perfekt. Die Idee ist es, in dieser Welt der Hotels, der Gasthäuser und der Backpacker eine soziale Alternative zu offerieren. Oftmals sind solche Einrichtungen ja irgendwelche Joint Ventures oder so etwas, und damit nicht für das Gemeinwohl gedacht. Es gibt ja mittlerweile auch eines in Südafrika. Bei uns geht das Geld in soziale Fonds. Die Erlöse, abzüglich der Kosten für das Personal und andere Dinge, fließen dahin zurück, wo sie herkommen, und eben nicht nach Dubai oder in die USA. Es dient den Menschen vor Ort.
Mal ein Blick nach vorn: Wie sehen die nächsten Projekte aus, was wird die Zukunft bei Viva con Agua bringen?
Ganz ehrlich: Ich glaube, mit diesem Gasthaus ist erstmal ein Punkt erreicht, an dem „Pause“ gedrückt und restrukturiert wird, an dem viele Hausaufgaben gemacht werden müssen. Das war jetzt eine Phase mit großem Wachstum, die auch an uns nicht ganz spurlos vorbeigegangen ist. Da gibt es jetzt eine Refokussierung. Ansonsten haben wir noch das Kinderprojekt „Viva Alpagua!”, wo wir Kindermusik machen. Darauf werde ich mich persönlich konzentrieren, weil ich jetzt auch zweifacher Papa bin und dadurch so eine gewisse intrinsische Motivation habe, dass es auch geile, soziopolitisch relevante Kindermusik gibt. Innerhalb dieser Kosmen, die wir haben, mit Musik, mit Arts, mit Villa Viva, mit Goldeimer, mit Viva con Agua, haben wir genug zu tun und können genug Felder bespielen.
Micha, vielen Dank für die vielen Infos, die lehrreichen Dinge, die du erzählt hast.
Sehr gern, und nochmal an dieser Stelle die Info: 560 Millionen Menschen auf der Welt haben immer noch keinen regulären Zugang zu sauberem Trinkwasser. 3,6 Milliarden Menschen keinen Zugang zu einer sanitären Versorgung. Das ist der Grund, warum wir immer noch aktiv sind. Wir haben etwa 3,6 Millionen Menschen einen Zugang zu sauberem Trinkwasser verschafft, aber die Arbeit geht weiter.
Zur Person
Michael „Micha“ Fritz, 39 Jahre alt, wächst in Ludwigsburg und Stuttgart auf. Mit Anfang 20 zieht es ihn hinaus in die Welt, 2006 gründet er mit dem Fußballprofi Benjamin Adrion in St. Pauli eine entwicklungspolitische Non-Profit-Organisation, die Trinkwasser-Initiative Viva Con Agua. Mit seiner Frau Agnes hat Michael Fritz zwei Kinder.
Viva con Agua Zu den zahlreichen Projekten der NGO zählen heute unter anderem. ein eigenes Mineralwasser, die Goldeimer GmbH und die Villa Viva Holding GmbH. Im Hamburger Münzviertel soll 2023 die Villa Viva fertiggestellt werden, darin die Büroräume der Organisation und ein Gasthaus. In Südafrika feierte die Villa Viva Cape Town am 7. Oktober 2021 ihre Eröffnung.
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