Andreas, du lebst auf einem alten, abgelegenen Hof in Niedersachsen – brauchst du diese Abgeschiedenheit zum Schreiben?
Das habe ich mir bewusst so ausgesucht. Wir haben das Haus 2015 auch mit dem Gedanken gekauft, dass ich hier oben, auf dem umgebauten Getreideboden, meine Ruhe habe. Wenn ich aus dem Haus gehe, möchte ich nicht gleich viele Leute um mich herumhaben, wie das in der Stadt wäre.
In deinem neuen Roman Nicht ein Wort zu viel gibt es einen Autor, der ebenfalls sehr abgeschieden lebt, seinen Job allerdings nicht gut macht.
Genau (lacht). Dieses alte Forsthaus mit dem Bunker im Garten, das gibt es so ähnlich hier in der Gegend. Ich nutze oft reale Beispiele aus der Umgebung oder von Dingen, die ich auf Reisen sehe. Das macht es authentischer.
Also ziehst du viel Inspiration aus deinem Alltag?
Ja! Meine zweite Leidenschaft sind Outdoor-Abenteuer: Bergsteigen, Kajak fahren, Langstrecken-Trekking. Man findet immer Inspirationen, wenn man sich raus und unter Menschen oder in Gefahr begibt. Man kann auch nicht verhindern, dass man seinen eigenen Charakter in viele Rollen mit einbringt – wie man denkt und sich in gewissen Situationen fühlt. Dass ich viel aus meinem Umfeld in die Geschichten einbaue, sogar Figuren, die real existieren, das ist in den letzten Jahren sogar noch mehr geworden.
Sind diese Abenteuerreisen zugleich auch ein Ausgleich zum Schreibtischjob?
Ja, schon. Ich bin ein sehr körperbetonter Mensch, Sport war immer meine zweite große Leidenschaft neben dem Schreiben. Tagelang am Schreibtisch zu hocken, ist für mich also eher Quälerei. Wenn ich einige Stunden am Schreibtisch saß, muss ich erstmal etwas anderes machen. Zum einen bietet dieses Haus mit dem Grundstück körperlichen Ausgleich, zum anderen sind es die Abenteuerreisen.
Bei einer Reise durch Skandinavien bist du letztes Jahr unter anderem in einem gruseligen Haus gelandet.
Ich war drei Monate mit dem Fahrrad durch Skandinavien und in den schwedischen Wäldern unterwegs, auch dort, wo man als Tourist eigentlich nicht hinkommt, wo nur Schotterstraßen und Wälder existieren. Man findet dort viele leerstehende Häuser, richtige Lost Places. Eines dieser Häuser war so, wie ich es im neuen Buch beschreibe, mit Schriftzügen wie „Burn, burn, burn“ an der Wand. Vor dem Haus stand ein Auto mit Einschusslöchern, als ob es für einen Horrorfilm gemacht wurde.
Klingt nach der perfekten Inspiration.
Genau. Ich war zudem allein unterwegs. Keine Menschen drumherum, nur Wald. Das gibt noch mal ein anderes Feeling. Jedes Geräusch, das aus dem Wald kommt, weckt die Instinkte.
Eine Hauptfigur in deinem neuen Roman ist Zielfahnder. Du hast vorab Kontakt zu einem echten Zielfahnder aufgenommen – wie kam es dazu?
Ich kannte die Person schon, weil ich eine Zeit lang nach Hannover zu einem Selbstverteidigungskurs gefahren bin und der Trainer dort Zielfahnder von Beruf war. Ich habe den Kontakt wieder aufgenommen, damit er mir aus seinem Berufsleben erzählen kann. Eine seiner Geschichten hat mich zu der Szene zu Beginn des Romans inspiriert, in der eine Person aus dem Fenster geworfen wird.
Hattest du auch schon mal Kontakt zu einem Verbrecher oder Mörder?
Nein, noch nicht. Beim Schreiben fällt es mir allerdings auch am leichtesten, mich in den Kopf eines Täters zu versetzen. Wahrscheinlich, weil es kein Alltag ist, keine Normalität, weil man sein kann, wie man will, ohne sich an Vorgaben halten zu müssen. Ein kranker Kopf – da kann man alles hineindenken.
Wurdest du schon oft komisch beäugelt, weil du dir solch kranke Geschichten ausdenkst?
Das passiert regelmäßig, auf Lesereise kommt die Frage immer: „Wie kann jemand, der so sympathisch wirkt, sich solche Geschichten ausdenken?“ Es passiert auch mal, dass ich auf der Straße angesprochen werde: „Ich habe ihr letztes Buch gelesen, das ist ja furchtbar, was sind sie eigentlich für ein Mensch?“ Man verwechselt gerne Realität und Fiktion.
Wie differenziert ist der Inhalt deiner Romane, wenn du mit deinem Verlag weit im voraus Cover, Titel und Veröffentlichungsdatum festlegst?
Das ist schwierig bei mir, weil ich meine Geschichten nicht vorher durchplotte. Ich habe eine Grundidee, mit der ich mich an den Laptop setze – und dann geht es los. Ich kann dem Verlag zu so einem Zeitpunkt also noch nicht sagen, wie die Geschichte genau abläuft, sondern nur meine Grundidee. Das mögen Verlage nicht gerne, aber so arbeite ich nun mal. Gerade zu Anfang hat das auch zu Verwerfungen geführt, da musste ich ein Exposé entwerfen, das dann nicht so gelungen war. Aber wenn man einigermaßen erfolgreich ist und die Verlage wissen, dass ein vernünftiges Buch dabei herauskommt, gibt es diese Forderung nicht mehr.
Zu Beginn deiner Romane schreibst du also quasi drauf los?
Ja! Die erste Szene habe ich meistens im Kopf, mit der fange ich an, und darauf baut alles auf. Ich erzähle mir die Geschichte erstmal selbst, ohne eine Ahnung davon zu haben, wer der Täter ist, welche Figur die Hauptrolle übernimmt – das entwickelt sich alles beim Schreiben. Für mich ist das die einzig mögliche Art zu schreiben, weil es auch spannend für mich ist, ich muss mich an kein Gerüst halten. Ich kann mich überraschen lassen und dadurch andere überraschen. Das bedingt allerdings, dass man noch eine zweite und dritte Überarbeitung braucht, bis alles rund ist und die Handlungsstränge zueinander führen. Ich spare mir dadurch also keine Arbeit.
Du wusstest also auch während des Schreibens von Nicht ein Wort zu viel noch nicht, wer letztlich der Mörder ist?
Nein, wusste ich nicht. Etwa ab Seite 200 oder 250 fange ich an, darüber nachzudenken, wo ich den Täter verstecke. Wen aus der Riege behalte ich als falsche Fährte und wo verstecke ich den Täter? Wenn mir das einfällt, ist das ein ganz besonderer Moment, weil ich dann weiß, die Geschichte funktioniert.
Und mit dem Legen falscher Fährten bist du vermutlich routiniert?
Das bringt die Erfahrung mit sich. Ganz am Anfang war ich noch unsicher damit. Es waren auch mal Romane dabei, die nicht funktioniert haben und die ich in die Tonne getreten habe. Das liegt allerdings auch schon mehr als zehn Jahre zurück. Mittlerweile passiert mir das, Gott sei Dank, nicht mehr.
Du hast 26 Bücher in 16 Jahren veröffentlicht und schreibst zwei Bücher pro Jahr. Hast du keine Albträume, dass dir mal die Ideen ausgehen?
Die hatte ich zum Glück noch nicht. Ich schlafe jede Nacht acht Stunden wie ein Baby. Das kann auch daran liegen, dass ich oft körperlich ziemlich fertig bin, weil ich viel Sport mache. So etwas wie eine Blockade hatte ich noch nie. Wenn man mit offenen Augen oder Ohren durch die Welt geht, findet man eigentlich immer Inspiration. Das muss nur eine Kleinigkeit sein, wie diese Legende über Hemingway im neuen Roman. Das reicht aus, um in meinem Kopf ein Räderwerk in Gang zu setzen, das am Ende einen ganzen Roman ausspuckt.
Wo hast du die Legende über Hemingway, der eine Kurzgeschichte aus nur sechs Wörtern geschrieben haben soll, entdeckt?
Die habe ich in dem Sachbuch "Erzählende Affen" gefunden. Sie hat mich zu den Fünf-Wort-Geschichten inspiriert, die schon eine Challenge sind.
Und du hast sie angenommen, schließlich musstest du dir einige ausdenken. Wie kompliziert war das?
Das hat schon einen Moment gedauert (lacht). Noch schwieriger war es allerdings die fünf Kapitel des Buches passend zu benennen. Über jedem Kapitel steht ein Wort, die fünf Wörter ergeben im Grunde das Geheimnis der Geschichte, nur kann man das beim Lesen nicht erkennen.
Zumal das am Ende nicht erklärt wird, andere Details hingegen schon. Wie kompliziert ist es, dabei den Überblick zu wahren?
Am besten gefällt es mir, wenn die Geschichte am Ende schon ausreichend erklärt ist und man nicht noch mal alles durchkauen muss. Aber das gelingt nicht immer. Manche Kleinigkeiten muss man noch mal aufschlüsseln, dazu gehe ich das Buch durch und notiere mir offene Fragen. Am Ende gibt es meistens noch einen Dialog, um diese Fragen zu klären, aber auch um einen versöhnlichen Abschluss zu finden. Die meisten Lesenden wünschen sich, dass am Ende einer Mordgeschichte die Welt wieder in Ordnung ist.
Du würdest bestimmte Figuren, im aktuellen Roman etwa die Psychologin, also nicht sterben lassen?
Da bin ich mir gar nicht sicher. Ich gehe schon rüde mit meinen Figuren um, ich bekomme das dann aber von meiner Frau um die Ohren geschlagen, weil sie die erste ist, die das Manuskript liest. Wenn sie sich in eine Figur verliebt hat und ich diese töte, dann bekomme ich etwas zu hören. Im Fall der Psychologin habe ich von mir aus schon einen Rückzieher gemacht und mir gesagt: Die töte ich lieber nicht, das kommt nicht gut an.
Dahinter stecken also auch verkaufsstrategische Überlegungen?
Genau. Ich mag es auch, wenn eine Geschichte mal kein Happy End hat, man nachdenklich zurückbleibt und ein paar Tage nach dem Lesen noch an dem Ende herumkaut. So wie nach dem Film Sieben, der dich schockiert zurücklässt. Ich mag das gerne, es hat sich aber herausgestellt, dass die meisten Lesenden ein versöhnliches Ende mögen. Und natürlich achtet man darauf beim Schreiben.
Welche verkaufsstrategischen Überlegungen machst du dir noch?
Ich versuche immer ein aktuelles Thema aufzugreifen, das in der Lebensrealität der Menschen verankert ist. Die Buchblogger sind nicht die Mehrheit der Leserschaft, aber das tiefere Thema des aktuellen Romans ist ja eigentlich unsere Beurteilungsmentalität: Alles muss mit Sternchen oder einer Beurteilung versehen werden. Dabei wird manchmal ziemlich rüde vorgegangen und man macht sich kaum Gedanken darüber, was das mit der beurteilten Person machen kann.
Neben der Kreativität erfordert dein Job also auch Disziplin und strategische Überlegungen.
Es muss Geschwindigkeit in den Texten sein, weil wir in einer Zeit leben, in der alles schnell passieren muss. Kaum jemand nimmt sich noch richtig Zeit zu lesen. Wer liest heute noch einen 1000-Seiten-Wälzer, wie Stephen King sie damals geschrieben hat? Man braucht eine hohe Taktung, möglichst viele Plot-Points, muss den Leser immer mit etwas Neuem überraschen. Das muss man alles beim Schreiben im Hinterkopf haben, weil das später über den Verkaufserfolg entscheidet. Und weil ich davon lebe, ist das schon wichtig.
Übst du trotz dieser Umstände deinen Traumberuf aus?
Ja! Ich mache das immer noch mit Leidenschaft. Natürlich gibt es auch schlechte Tage, das möchte ich gar nicht verheimlichen. Manchmal denke ich auch, wärest du mal Bäcker geblieben, dann müsstest du dir jetzt nicht den Kopf zerbrechen.
Was ist besser am Job des Schriftstellers?
Die Freiheit, die damit einhergeht. Arbeiten zu können, wo und wann ich möchte. Ich muss zwar auch ständig arbeiten, aber das erlege ich mir selbst auf. Ich müsste nicht zwei Bücher pro Jahr veröffentlichen. Und das würde ich auch nicht machen, wenn es mir keinen Spaß machen würde. Drumherum habe ich trotzdem viele Freiheiten: Nächste Woche fahre ich mit dem Wohnmobil nach Norwegen und schreibe dort weiter. Ich muss niemanden nach Urlaub fragen. Es war aber auch so, dass die Schreiberei viele Jahre überhaupt nichts eingebracht hat und ich andere Jobs machen musste, um mein Leben zu finanzieren. Davon leben zu können, ist etwas Besonderes. Und das ist auch nicht über Nacht passiert.
Du hast viele Romane nicht veröffentlichen können.
Genau, das war die Lehrzeit. Wenn ich heute in die alten Manuskripte gucke, bin ich auch froh darum (lacht).
Wie viele Manuskripte sind es?
Ich glaube sechs vollständig geschriebene Romane, nicht nur Fragmente.
Wie viele Jahre hast du daran gearbeitet?
Damals habe ich noch nicht so viel geschrieben, weil ich andere Jobs machen musste, aber es hat etwa zehn Jahre gedauert, bevor das erste Buch erschienen ist. Und dann noch etwa sieben bis acht Jahre, bevor der große Erfolg mit dem Spiegel-Bestseller kam.
Weder deine Bäcker-Lehre, noch die unveröffentlichten Manuskripte konnten dich von der Schriftstellerei abhalten. Du hast irgendwann sogar offensiv entschieden, alles auf eine Karte zu setzen. Wie hast du diese Entscheidung getroffen?
Ich habe nur ein Jahr als Bäcker gearbeitet und mich dann bei der Armee verpflichtet, weil ich gehört hatte, dass man finanzielle Mittel bekommt, um zu studieren. Ich habe Sport studiert und jahrelang in der Fitness-Branche gearbeitet. Irgendwann stand ich vor der Frage, ob ich mich mit einem Fitness-Studio selbstständig mache. Aber mir war klar, dass ich dann nicht mehr zum Schreiben kommen würde, weil die Zeit fehlen würde. Ich habe mich also dagegen entschieden, weil der Traum vom Schreiben vorbei gewesen wäre. Und dann bin ich Taxifahren gegangen.
Hauptberuflich?
Ja! Ich habe mir gesagt, du machst jetzt etwas, das dich nicht so fordert und wo du noch Zeit zum Schreiben hast.
Beim Taxifahren erlebt man sicher auch inspirierende Geschichten.
Ja, das war super. Im Nachhinein. Damals fand ich das doof, es gab noch keinen Mindestlohn, man hat 6,20 Euro brutto verdient, ich habe Krebs-Patienten gefahren und wurde nachts drei Mal überfallen. Das war schon schwer, aber im Nachhinein betrachtet hat mir der Kontakt mit den unterschiedlichen Menschen eine Menge fürs Schreiben gebracht.
Zur Person
Andreas Winkelmann, 1968 in Liebenau geboren, ist einer der bekanntesten deutschen Thriller-Autoren. Nach einer Bäcker-Lehre, einem Sportstudium und einigen Jahren in der Fitness-Branche macht er seine Leidenschaft für das Schreiben zum Beruf. 2007 erscheint sein Debütroman Der Gesang des Scherenschleifers, mit Die Lieferung steht er 2019 an der Spitze der SPIEGEL-Bestsellerliste. Winkelmann schreibt auch unter den Pseudonymen Frank Kodiak und Hendrik Winter.
Das Interview mit Andreas Winkelmann findet ihr auch in buddy No. 11 - kostenlos in der Szene-Gastronomie erhältlich
Andreas Winkelmann
"Nicht ein Wort zu viel"
400 Seiten | 12 €
Während einer Lesung bekommt Buchbloggerin Faja ein Video zugeschickt, in dem ihr Kollege Claas gefesselt und in Todesangst zu sehen ist. Dazu erhält sie die Aufforderung: „Erzähl mir eine spannende Geschichte. Sie darf fünf Wörter haben. Sonst muss dein Freund sterben.“ Was sie zuerst für einen Scherz hält, ist der Anfang einer Mordserie. Faja und ihre Buch-Clique versuchen der Polizei auf der Suche nach dem Mörder zu helfen, der bald auch Faja aufsucht.
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