Nach der WM in Katar, die für Deutschland sportlich desaströs verlaufen ist, muss sich der deutsche Fußball neu aufstellen. Dafür setzte der DFB eine Taskforce ein. Die richtige Entscheidung, um den deutschen Fußball nach vorne zu bringen?
Max-Jacob Ost: Ich wüsste nicht – und das geht nicht gegen ihn als Person –, was die Innovationskraft eines Rudi Völler sein sollte. Und das war auch bei vielen anderen in der Taskforce so.
Christian Nerlinger: Vielleicht war der Gedanke dahinter, dass es zu viele Innovationen um die Nationalmannschaft gab. Super innovativ zu sein, hat uns aber nicht erfolgreicher gemacht. Dabei hat man – und ich meine das nicht despektierlich – vergessen, mit gesundem Menschenverstand festzulegen, was für eine Mannschaft wichtig ist. Dass die Taskforce den Fußball neu erfindet, habe ich nicht erwartet, wohl aber, dass von ihr Impulse ausgehen. Dass sie für Reibung sorgt, damit nicht alles so glattgebügelt bleibt.
Die Nationalmannschaft war also zu glatt in den vergangenen Jahren?
Ost: Manche Dinge müssen tatsächlich zurückgedreht werden, die Mannschaft war zuletzt zu viel Kunstprodukt und Marketing. Darauf reagieren die Leute allergischer als es vor fünf oder zehn Jahren der Fall war. Auf einer Lesung hat mir vor kurzem einer die Frage gestellt, woher der nächste Visionär im deutschen Fußball käme. Wenn Uli Hoeneß so einer war, wer wäre dann der nächste? Seitdem denke ich über diese Frage nach und habe das Gefühl, dass er von außen kommen muss. Die Herausforderungen, vor denen der Fußball steht, sind nicht nur sportlicher Natur. Sie haben mit anderen Medien, mit Konkurrenzsportarten zu tun, die sich vor zehn Jahren noch nicht so deutlich als Konkurrenten abzeichneten, etwa American Football. Vielleicht wäre deshalb jetzt der Zeitpunkt, an dem die Innovation im Fußball von außerhalb kommen muss.
Nerlinger: Muss man den Fußball in Deutschland überhaupt neu erfinden? Wenn ich das Produkt Bundesliga sehe, dann würden sich vermutlich alle Beteiligten freuen, wenn Bayern München einen ernsthaften Konkurrenten hätte. Wenn man aber sieht, wie Bayern im Vergleich zu den anderen Top-Ten-Mannschaften der Welt aufgestellt ist, dann braucht sich Deutschland nicht zu verstecken. Natürlich gibt es Diskussionsbedarf und gewisse Themen müssen beleuchtet werden. Aber ich glaube nicht, dass es einen Elon Musk braucht, der als Wunderkind die deutsche Nationalmannschaft rettet.
Den würde sich vermutlich keiner wünschen...
Nerlinger: Im Anschluss an das EM-Aus 2000 hat man gerade im Jugendakademiebereich vieles verändert. Hier wäre für mich jetzt wieder ein Ansatzpunkt: Es müsste ein Gentlemen’s Agreement geben, um das aggressive Abwerben von Jugendlichen zu stoppen. In manchen Fällen sind die Jugendinternate sinnvoll, aber in erster Linie ist für Kinder und Jugendliche das heimatliche Umfeld wichtig. Solche Themen sollte man aufgreifen.
Ost: Aber speziell in der Nachwuchsförderung haben England und Frankreich dem deutschen Fußball den Rang abgelaufen. Warum versucht man nicht, jemand aus diesen Verbänden zu holen? In Frankreich zum Beispiel trainieren die Jugendlichen zwar an einem Stützpunkt, spielen aber am Wochenende in ihren Heimatvereinen. Ich weiß, dass hat auch mit der Struktur des DFB zu tun. Es gibt die Landesverbände, die DFB-Stützpunkte und die Nachwuchsleistungszentren der Vereine. Dadurch ist es sehr schwierig, ins laufende System einzugreifen. 2000 hatte man ja schon vorher beschlossen, etwas zu ändern, aber nach dem EM-Aus war auch der Wille da. Wenn es große Reformen gibt, etwa die Jugendfußballreform, in deren Zuge der DFB „Funino“ einführen wollte, dann schreien bis in die tiefste Amateurklasse hinein alle auf – und die Reform wird zurückgedreht. Vielleicht wäre es deshalb gut, jemanden aus England oder Frankreich zu holen, der hier nicht so verwurzelt ist und so neue Dinge anstoßen kann.
Nerlinger: Ich glaube, auf Vereinsebene wird es schon langsam internationaler. Der erste Schritt ist für mich aber zu versuchen, den Nationalmannschaftsfußball ohne große Revolution wieder auf die Bahn zu bringen. Dazu gehört auch, die Nationalmannschaft wieder beliebter zu machen. Im Moment hat man Probleme, die Stadien vollzubekommen.
Ost: Das liegt aber auch daran, dass jedes öffentliche Training zelebriert wird.
Müssten öffentliche Trainings nicht der Regelfall sein, statt die Ausnahme wie jetzt?
Nerlinger: Man wird den Leuten damit aber auch nicht gerecht. Wir haben damals bei Bayern München öffentlich trainiert und vor allem in den Schulferien waren mitunter 5.000 Leute am Trainingsplatz. Es gab Dutzende von weinenden Kindern, weil man nach dem Training nicht alle zufriedenstellen kann. Aber die Nähe zum Fan, die es braucht, um wieder greifbarer zu werden, ist ein Ansatz.
Insofern ist also jemand volkstümliches wie Rudi Völler einer, der genau das leisten kann?
Ost: Ich habe mich gewundert, wie positiv es aufgenommen wurde, als es die ersten Gerüchte gab, dass Rudi Völler Sportdirektor der Nationalmannschaft wird. Für mich verkörpert er eben nicht das, was die Leute begeistert. Wenn ich mir vorstelle, er könnte die Prämien für die Frauennationalmannschaft mitverhandeln, dann bin ich unsicher, ob er der Richtige ist.
Nerlinger: Das ist aber gar nicht Teil seines Jobs. Es geht eher darum, dass er ganz nah an der Mannschaft ist, als Partner für den Trainer fungiert und auch das Gesicht nach außen ist.
Ost: So oder so ist es doch bizarr, dass er Teil der Taskforce war und zugleich die Lösung des Problems sein soll.
Als würde sich Geschichte wiederholen. 2000 war er auch Teil der Trainerfindungskommission und endete schließlich als Nationaltrainer.
Ost: Bis zur EM 2024 bleibt nur noch wenig Zeit und bis dahin wird man keinen Stürmer und auch keinen Außenverteidiger entdecken, den man nicht schon auf dem Zettel hätte. Zugleich weiß man, dass nach der WM in Katar vor allem ausländische Medien kritisch auf uns schauen werden. Wie sind die Arbeitsbedingungen hier in Deutschland, wie geht es etwa in den Schlachthöfen zu? All die Themen, die man Katar vor die Füße geworfen hat, werden zurückkommen. Deshalb glaube ich, dass Rudi Völler den undankbarsten Job im deutschen Fußball hat. Ich kann mir jedenfalls derzeit nichts Schwierigeres vorstellen, als in einem Jahr die Öffentlichkeit mitzunehmen, sportlich nach vorne zu kommen und dem Trainerteam den Rücken so freizuhalten, dass es in Ruhe arbeiten kann.
Nerlinger: Es gibt viele Beispiele für Teams, die unglaubliche Niederlagen einstecken mussten und im Folgejahr mit dem gleichen Trainer große Erfolge hatten. Man denke nur an die Niederlage der Bayern gegen Manchester United oder – ich war selbst dabei – die Niederlage gegen Chelsea zuhause. Oder nimm Jürgen Klopp, der mehrfach mit Mainz den Aufstieg verpasst, aber nicht aufgegeben hat. Das Aus bei der WM war ein Einschlag, aber ich glaube, Hansi Flick ist topmotiviert. Es wird auf jeden Fall spannend, wie er die Mannschaft strukturiert, was sich verändert, wie es sich verändert.
Ost: Aber muss man dann direkt wieder mit dem Ziel antreten, Europameister zu werden? Wäre es nicht schlauer zu sagen, wir wollen ein tolles Turnier veranstalten und eine super EM durchführen? Also das zu machen, was sportlich eigentlich schon passiert ist, dass der deutsche Fußball auf Vereinsebene – mit Ausnahme der Bayern – ein wenig runtergestuft wurde? Es ist nicht mehr so, dass man zur Spitze gehört, weder auf Vereins- noch auf Nationalmannschaftsebene. Warum muss man immer sagen: „Wir werden Europameister“? Vor der WM 2006 hat Klinsmann das gemacht, um alle zu motivieren. Wenn jetzt jemand sagt, wir wollen Europameister werden, dann lachen doch alle. Ich finde, es stünde dem DFB gar nicht schlecht, zu sagen: Natürlich wollen wir weit kommen, aber das ist unser Turnier und wir wollen, dass es für alle fantastisch wird – inklusive unseres Teams. Das fände ich persönlich viel sympathischer und man würde sich damit auch etwas Druck nehmen. Titel sind nicht planbar, es hängt an Kleinigkeiten. 2014 hätte genauso gut verloren gehen können.
Man denke nur ans Spiel gegen Algerien.
Ost: Ich verstehe nicht, warum man es auch den Journalisten damit so leicht macht, aufs Ergebnis fixiert zu sein. Das ist für mich auch eins der Probleme, die wir derzeit im Fußball haben: Es wird alles nur vom Ergebnis her bewertet.
Nerlinger: Das ist ein guter Punkt, der für mich auch eine große Rolle bei der Entscheidung spielt, warum ich nicht mehr Teil einer Vereinsführung sein möchte. Es gibt nur noch eine Euphorie, so ein Getue nach Siegen, bei dem man denkt: Wir haben nur Fußball gespielt. Freut euch, lasst uns alle freuen, aber wir sind keine Götter. Und wenn man verliert, dann darf man das Land nicht mehr betreten. Das ist nicht nur medial so, sondern auch gesellschaftlich. Aber ich fürchte, dass wir genau das nicht mehr ändern können.
Christian Nerlinger, Jahrgang 1973, war als Fußballprofi bei Bayern München, Borussia Dortmund und dem 1. FC Kaiserslautern aktiv. 2008 wurde er Teammanager des FC Bayern München, ein Jahr später Nachfolger von Uli Hoeneß als Sportdirektor. Nach dem verlorenen Champions-League-Finale gegen den FC Chelsea 2012 wurde er entlassen. Heute ist er als Spielerberater tätig.
Max-Jacob Ost ist Autor und Podcaster. Nach journalistischen Stationen bei "11 Freunde" und "Spox" macht er seit 2014 den Podcast "Rasenfunk". 2020 kam mit "11 Leben – Die Welt von Uli Hoeneß" ein weiterer dazu, aus dem ein Buch entstanden ist: „Aus Liebe zum Spiel – Uli Hoeneß, das Geld und der deutsche Fußball“ ist bei DTV erschienen.
Das Interview mit Christian Nerlinger und Max-Jacob Ost findet ihr auch in buddy No. 10 - kostenlos in der Gastronomie erhältlich.
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